Stammkunde – Der Wald als Projektionsfläche

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Ein kurzes Winter-Intermezzo verwandelte die Stämme am Wegrand: Aus einfachen Stämmen wurden gewissermaßen Schneestämme. Mit dem Schnee wurden sie schlanker, ja fast halbiert.

Zugleich trat jeder der einzelne Stamm wieder deutlicher hervor und erzählte noch einmal für einen kleinen Moment seine Geschichte: Die Geschichte vom Baum mit Ästen und Zweigen und Wurzeln und Blättern … bevor er gefällt wurde.

In meinem inneren Bild vom Wald gehören gefällte Bäume dazu. Schon als Kind bin ich auf den Stämmen balanciert, was deutlich leichter war, als einen Baumstamm hochzuklettern. Doch stimmt dieses Bild vom Wald? Ist es nicht eher eine reduzierte Vorstellung vom Wald als Nutzwald?

Tote Bäume

Vermutlich stirbt die Mehrzahl der Bäume in Deutschland keines natürlichen Todes. Sondern fällt der Motorsäge zum Opfer … spricht: wird gefällt. Oder wenn man so will: er wird geerntet. Und wartet dann als sogeannte Holzpolter auf den Abtransport.

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Es gibt auch andere Wälder in Deutschland. Die sind aber selten und werden dann oft als Nationalpark bezeichnet. Lesenswert ist dazu der in „Der Freitag“ veröffentlichte Beitrag „Die Kunst leben zu lassen“ des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Bernhard Malkmus. Er schreibt dort u.a. über die Wiederentdeckung der Waldwelt in Zeiten von Corona, über die „Macht der toten Bäume“ und insbesondere über Naturschutz, Ökologie und den Nationalpark Bayerischer Wald.

Ausgeräumte Landschaften

Darin beschreibt er auch unsere Neigung zu (Flur-)Bereinigung und den irrwitzigen Flächenverbrauch in Deutschland. Aber auch über Leben, Tod und Sterben:

„Alle 18 Monate wird in der Republik eine Fläche von der Größe des Nationalparks Bayerischer Wald versiegelt. Und dann ist da noch der deutsche Zwang, Landschaften „aufzuräumen“. So werden die von der Flurbereinigung übrig gelassenen Hecken von den Kommunen regelmäßig einer sogenannten Böschungshygiene unterworfen. In den tief auf Stock geschnittenen Randstreifen wird dabei alles Leben ausgemerzt: Schlangen werden zerhäckselt, Erdkröten zermalmt, Nistmöglichkeiten für Insekten weggeputzt. Welche Psychologie liegt hinter dem Ausräumen unserer Landschaften? Rotten wir das Leben um uns aus, weil uns seine Lebendigkeit an unsere Sterblichkeit erinnert? Ist dies unsere Art, den Tod zu verleugnen? Merken wir nicht, dass die total anthropomorphisierten Landschaften, die wir unseren Kindern hinterlassen, ein Mausoleum sind?“

Oh weh … Ich befürchte, ich sollte mir diesen Blickwinkel mehr zu eigen machen. Auch wenn er Illusionen zerstört. So sind die Baumstämme, die ich am Wegrand sah, eben Teil dieser allgegenwärtigen anthropomorphen Landschaft. Einer weitgehend auf Verwertung und Nützlichkeit hin optimierte Landschaft. Die ich weniger aus dem Blickwinkel der Ökologie als der Ästhetik wahrgenommen habe.

„Böschungshygiene“ – dieses Wort geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sicherlich gibt es auch eine Baumstammhyfiene. Aber womöglich dürfen die Stämme liegen bleiben, als künstliches Totholz quasi. So hoffe ich mal. Zuflucht für Tiere, die die Feuchtigkeit und lieben …

Ich habe mir vorgenommen, die Baumstämme im Auge zu behalten.

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