Sep 262022
 

so ist das im

„so ist das im“ – diese Worte las ich kürzlich auf einer Litfaßsäule. Tatsächlich stand dort noch ein halbwegs vollständiger Satz. Ich hielt ihn mit der Kamera fest. Doch als ich später das Foto betrachtete, war mir der Satz zu eindeutig. Daher ließ ich das an die Präposition anschließende Wort verschwinden.

Aus dem eindeutigen Satz wurde ein vieldeutiger, geheimnisvoller, unvollendeter Satz. Vielleicht auch ein unsinniger Satz. Mir gefiel die Offenheit des Unvollständigen. „so ist das im“. Der Satz kann jetzt ergänzt werden. Ein vollständiger Satz wurde unfunktioniert zu einem Satz, der herausfordert, der nach Vervollständigung verlangt.

Ich lasse ihn so stehen. Ich bin im Großen und Ganzen mit ihm einverstanden. Denn eigentlich beginnt der Satz so unvermittelt, wie er endet. Er war auch zuvor nur scheinbar ein vollständiger Satz.

 26. September 2022  No Responses »
Jan 062021
 

Ein kurzes Winter-Intermezzo verwandelte die Stämme am Wegrand: Aus einfachen Stämmen wurden gewissermaßen Schneestämme. Mit dem Schnee wurden sie schlanker, ja fast halbiert.

Zugleich trat jeder der einzelne Stamm wieder deutlicher hervor und erzählte noch einmal für einen kleinen Moment seine Geschichte: Die Geschichte vom Baum mit Ästen und Zweigen und Wurzeln und Blättern … bevor er gefällt wurde.

In meinem inneren Bild vom Wald gehören gefällte Bäume dazu. Schon als Kind bin ich auf den Stämmen balanciert, was deutlich leichter war, als einen Baumstamm hochzuklettern. Doch stimmt dieses Bild vom Wald? Ist es nicht eher eine reduzierte Vorstellung vom Wald als Nutzwald?

Tote Bäume

Vermutlich stirbt die Mehrzahl der Bäume in Deutschland keines natürlichen Todes. Sondern fällt der Motorsäge zum Opfer … spricht: wird gefällt. Oder wenn man so will: er wird geerntet. Und wartet dann als sogeannte Holzpolter auf den Abtransport.

Es gibt auch andere Wälder in Deutschland. Die sind aber selten und werden dann oft als Nationalpark bezeichnet. Lesenswert ist dazu der in „Der Freitag“ veröffentlichte Beitrag „Die Kunst leben zu lassen“ des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Bernhard Malkmus. Er schreibt dort u.a. über die Wiederentdeckung der Waldwelt in Zeiten von Corona, über die „Macht der toten Bäume“ und insbesondere über Naturschutz, Ökologie und den Nationalpark Bayerischer Wald.

Ausgeräumte Landschaften

Darin beschreibt er auch unsere Neigung zu (Flur-)Bereinigung und den irrwitzigen Flächenverbrauch in Deutschland. Aber auch über Leben, Tod und Sterben:

„Alle 18 Monate wird in der Republik eine Fläche von der Größe des Nationalparks Bayerischer Wald versiegelt. Und dann ist da noch der deutsche Zwang, Landschaften „aufzuräumen“. So werden die von der Flurbereinigung übrig gelassenen Hecken von den Kommunen regelmäßig einer sogenannten Böschungshygiene unterworfen. In den tief auf Stock geschnittenen Randstreifen wird dabei alles Leben ausgemerzt: Schlangen werden zerhäckselt, Erdkröten zermalmt, Nistmöglichkeiten für Insekten weggeputzt. Welche Psychologie liegt hinter dem Ausräumen unserer Landschaften? Rotten wir das Leben um uns aus, weil uns seine Lebendigkeit an unsere Sterblichkeit erinnert? Ist dies unsere Art, den Tod zu verleugnen? Merken wir nicht, dass die total anthropomorphisierten Landschaften, die wir unseren Kindern hinterlassen, ein Mausoleum sind?“

Oh weh … Ich befürchte, ich sollte mir diesen Blickwinkel mehr zu eigen machen. Auch wenn er Illusionen zerstört. So sind die Baumstämme, die ich am Wegrand sah, eben Teil dieser allgegenwärtigen anthropomorphen Landschaft. Einer weitgehend auf Verwertung und Nützlichkeit hin optimierte Landschaft. Die ich weniger aus dem Blickwinkel der Ökologie als der Ästhetik wahrgenommen habe.

„Böschungshygiene“ – dieses Wort geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sicherlich gibt es auch eine Baumstammhyfiene. Aber womöglich dürfen die Stämme liegen bleiben, als künstliches Totholz quasi. So hoffe ich mal. Zuflucht für Tiere, die die Feuchtigkeit und lieben …

Ich habe mir vorgenommen, die Baumstämme im Auge zu behalten.

 6. Januar 2021  No Responses »
Jun 112020
 

Akademiegespräch mit Frank Vogelsang

Unter dem Titel „Verstörende Einsfünfzig – Eine Kunstperformance in Corona-Zeiten“ ist auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie im Rheinland ein Zoomvideo mit Akademiedirektor Dr. Frank Vogelsang zu finden.

Akademiegespräch mit Frank Vogelsang über Kunst und Corona
Akademiegespräch in der Reihe eair-diskurse online

Im Teaser zum Gespräch heißt es: „Eine Kunstperformance kann die Augen öffnen und scheinbar Bekanntes noch einmal in einem neuen Licht erscheinen lassen. Was bedeutet es, wenn in der Corona Zeit die allgemeine Regel gilt, 1,5 Meter Abstand zu halten?

Die Publizistin und Theaterwissenschaftlerin Juliane Langer und der Öffentlichkeitsreferent und Konzeptkünstler Ralf Stieber, beide Karlsruhe, haben diesen Abstand bei einer Kunstperformance auf verstörende Weise visualisiert.

Was ist zwischenmenschliche Nähe, was ist Distanz? Die Bedeutung dieser Worte werden zurzeit neu ausgehandelt. Worum es dabei geht, können gerade auch Kunst Performances wie „einsfünfzig“ erhellend zum Ausdruck bringen.“

Die mehrteilige Performance „Einsfünfzig“ ist auf www.fotowort.de/einsfuenfzig und weiteren Seiten zu sehen

 11. Juni 2020  No Responses »
Mai 222020
 

Weitere Erfahrungen mit Sicherheits- und Mindestabständen

Der Corona-Schutzabstand und der Mindestabstand, den seit April 2020 Autos, Motorräder und Lastwagen beim Überholen von Fahrrädern einhalten müssen, beträgt jeweils mindestens „Einsfünfzig“.

Youtube-Clip: Einsfünfzig Sicherheitsabstand

In beiden Fällen geht es um das Einhalten von physischer Distanz zum Schutz des eigenen Lebens. Allerdings unterscheiden sich die Begründungen für die Distanz: Im Blick auf Corona soll die Ausbreitung einer Infektionskrankheit verhindert werden. Die Gefahr der Ansteckung ist zwar im Raum, doch unmittelbar kaum greifbar. Die Gefährdung ist unsichtbar für die menschlichen Sinne bzw. bestenfalls auf den zweiten Blick an Symptomen wie Husten erkennbar.

Unsichtbare und sichtbare Gefährdungen

Anders verhält es sich mit dem Schutzraum für Radfahrer: Hier gibt es ein eindeutig wahrnehmbares Gegenüber, das Gefahr für Leib und Leben bedeuten kann. Zu große Nähe zwischen Rad- und Autofahrern wird als bedrohlich wahrgenommen, nicht zuletzt weil Verkehrsteilnehmer unterschiedlich stark sind. Niels Boeing veranschaulichte das in einem ZEIT-Beitrag: „Ein PS entspricht rund 736 Watt. Tour-de-France-Profis bringen es auf bis zu 400 Watt, sportliche Radfahrer auf bis zu 200 Watt. Ohne zu ermüden, kann ein Mensch über eine lange Zeit mit 75 Watt in die Pedale treten – das sind gut 0,1 PS.“ (Die Räderrepublik, in: ZEIT Wissen Nr. 5/2015). Zum Vergleich: Die durchschnittliche PS-Zahl eines Neuwagen betrug 2019 in Deutschland 158 PS (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/249880/umfrage/ps-zahl-verkaufter-neuwagen-in-deutschland/).

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Innenstadt

Die Gefährdung von Radfahrern, der man mit der Distanz von Einsfünfzig zu begegnen trachtet, lässt sich also beziffern: Autofahrer in Neuwagen sind um den Faktor 1580 stärker als Radfahrer. Das Gefährdungspotential ist also erstaunlich hoch und kann bestenfalls durch Rücksichtnahme abgemildert werden.

Zurück zum Corona-Abstand, der ja ebenfalls Einsfünfzig beträgt. Hier bleibt der Gefährdungsfaktor fiktiv, denn das Coronavirus entzieht sich dem PS-Vergleich. Die Gefährdung wird als nicht fassbares Phänomen wahrgenommen, der mit einer zumindest theoretisch fassbaren Distanz begegnet wird. Distanz lässt sich in Sachen Corona am ehesten auf der Zeitachse darstellen: Gelingt es, die Dynamik der Pandemie zu verzögern, wird Zeit gewonnen, um die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln voranzutreiben und medizinische Behandlungskapazitäten aufzubauen. Distanz ist somit ein Raum- und Zeitphänomen.

Praxisnahe Umsetzung

Für uns lag es nahe, die Umsetzung des Mindestabstands auch auf dem Fahrrad einmal in der Praxis zu testen und quasi den Corona-Abstand und den Sicherheitsabstand beim Überholen miteinander zu kombinieren. Juliane Langer wagte den Test mit dem ausladenden Abstandsring, ich selbst war mit meinem einfachen Abstandhalter unterwegs. Beide Male wurde der schützende Raum um uns als verhältnismäßig groß erlebt. Dürfen wir tatsächlich so viel Raum für uns beanspruchen, fragten wir uns? (Tatsächlich genügt im Straßenverkehr rechts ja meist ein kleinerer Abstand von einem Meter.)

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Innenstadt 2

Einsfünfzig wurde als ungewohnt bzw. gewöhnungsbedürftig erlebt. Wir hatten keine wirkliche Vor-Erfahrung mit dieser Distanz. Spürbar war für uns zudem, dass die Einschätzung von Abständen erschwert wird, sobald man in Bewegung ist. So wird man, wenn man Raum einnimmt und sich dabei noch bewegt, mit ganz anderen Gefahren konfrontiert als wenn man an einem festen Ort Raum beansprucht.

Schließlich: Ich war nicht fähig, die Einhaltung des Mindestabstands beim Überholen in einer engen Straße tatsächlich einzufordern. Das Machtgefälle mit dem Faktor 1580 war einfach zu groß. Als sich ein Autofahrer mir von hinten näherte, hielt ich an, stieg vom Fahrrad ab und entfernte den Abstandhalter zu meiner eigenen Sicherheit.

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Nordstadt

Eine vergleichbare Erfahrung gibt es auch beim Insistieren auf den Coronaabstand im öffentlichen Raum: Wo Menschen nicht bereit sind, diesen Schutzabstand zu gewähren, kommt es schnell zu Konflikten nach dem Motto: „Ich gestehe dir diesen Raum nicht zu, ich bin nicht bereit, mich an solche Regeln zu halten!“ Ähnliches gilt für das Tragen von Schutzmasken, die ja weniger dem Selbstschutz als dem Schutz des Anderen dienen.

Ein Fazit: Distanzregelungen lösen offensichtlich Macht- und Ohnmachtsgefühle aus.

Ralf Stieber, Karlsruhe, 23. Mai 2020

 22. Mai 2020  1 Response »
Apr 302020
 
Einsfuenfzig - Kunstperformance Teil 3

Corona-Kreisabstand

Teil drei unserer Kunstperformance „Einsfünfzig“ fand vor dem Karlsruher Schloß und in der Fußgängerzone Karlsruhe statt. Die magischen 1,5 Meter in Zeiten von Corona markierten wir diesmal augenfällig mit einem Reifen, der mit Absperrband bespannt war. Juliane Langer trug diesen Abstandsreifen wie einen vertrauten Schutzraum mit sich, trotz des teilweise hefigen Windes. Ich selbst benutzte wieder eine der Bambusstangen in der Länge von 2 x 1,5 Metern als Abstandhalter.

Wir beide trugen einen Mundschutz, wie er seit Montag in Baden-Württemberg beim Einkaufen und in öffentlichen Verkehrsmitteln Pflicht ist. Die Maskierung machte die außergewöhnliche Situation noch einmal mehr präsent.

Den Teil der Performance vor dem Schloß hielt ich fotografisch fest. Der andere Teil in der Fußgängerzone wurde von Baden TV mit einem Video dokumentiert. Wir wollen aber nach Möglichkeit diesen Teil noch einmal für Fotos wiederholen.

Anders als bei den vorangegangen Aktionen suchten wir diesmal bewusst der Kontakt mit Passanten. Einige reagierten mit Kopfschütteln. Doch die meisten wussten, dass es sich um das Thema „Mindestabstand“ dreht. Erstaunte Blicke, Lächeln und Stirnrunzeln wechselten sich ab. Natürlich wurde die Performance nicht immer als Kunst erkannt, sondern eher als zusätzliche Störung in schwierigen Zeiten.

Ralf Stieber, Karlsruhe, 30. April 2020

 30. April 2020  No Responses »