Einsfünfzig

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Eine Kunstperformance über Abstand und Nähe
in Zeiten von Corona

Einsfünfzig“ lautete der Titel einer Kunstperformance mit Juliane Langer auf dem Karlsruher Schlossplatz Mitte April. Im Mittelpunkt stand die Mindestabstandsregelung in Zeiten der Corona-Pandemie. Ziel der Aktion war es, die Distanz von ein Meter fünfzig im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Als Abstandshalter dienten vier Bambusstäbe in entsprechender Länge und ein rotes Seil.

Einsfünfzig 1
Einsfünfzig 1

Die Verordnung der baden-württembergischen Landesregierung, „wo immer möglich, einen Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten“, klingt erst einmal lapidar. Jedes Schulkind weiß in etwa, wieviel ein Meter ist, „Einsfünfzig“ sind da eben noch ein paar Zentimeter mehr. Tatsächlich aber fehlt uns im Alltag eine exakte Vorstellung für Abstände, wir gehen eher gefühlsmäßig mit Nähe und Distanz um. Wie selbstverständlich versuchen wir Abstände zu Menschen einzunehmen, dabei bestimmen Faktoren wie Raumsituation und Beziehungsebene unser Distanzverhalten.

Einsfünfzig 4
Einsfünfzig 4

Soweit scheint alles klar zu sein: „Einsfünfzig“ bedeuten einfach etwas mehr Abstand als normal einzuhalten. Beim Nachmessen mit dem Zollstock war ich doch etwas überrascht: Meine gefühlten „Einsfünfzig“ waren bestenfalls ein Meter, wenn überhaupt.

Sicherheitsabstand

In unserer Kunstperformance auf dem Karlsruher Schlossplatz – ganz in der Nähe des „Platzes der Grundrechte“ und vor dem Karl-Friedrich-Denkmals – visualisierten wir den angeordneten Sicherheitsabstand und die neuen Grenzen zwischen Menschen. Wir zeichneten einen Kreis mit einem Radius von „Einsfünfzig“ auf den Schotterboden. Zur besseren Sichtbarkeit legten wir ein rotes Seil in diesen Kreis. Darüber hinaus hielt Juliane Langer vier 1,5 Meter lange Bambusstöcke, die jeweils in der Mitte verbunden waren, in die Höhe. Passanten wurde so signalisiert, dass hier die gebührende Distanz einhalten werden muss.

Einsfünfzig 3
Einsfünfzig 3

Die Aktion machte uns deutlich, dass 1,5 Meter Abstand eine größere Distanz ist als gedacht. Vor allem aber: „Einsfünfzig“ ist keinesfalls nur eine Distanz. „Einsfünfzig“ bedeutet auch einen Raum, der um jeden einzelnen herum entsteht: Ein Kreis mit dem Radius von „Einsfünfzig“ hat immerhin einen Umfang von 9,425 Metern und eine Fläche von 7,069 Quadratmetern. „Einsfünfzig“ definiert also gleichsam einen kleinen Wohnraum, ein Territorium. Zum Vergleich: Die Einzelhafträume in deutschen Gefängnissen sind etwa acht bis zehn Quadratmeter groß. Und in der inzwischen gestrichenen DIN- Norm 18011 von 1967, in der Mindestanforderungen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau festgelegt wurden, schien für Kindern ein Raum von etwa. 7,40 Quadratmeter als passend.

Einsfünfzig 8
Einsfünfzig 8

Zugleich spürten wir mit unserer Kunstperformance am eigenen Leib, wie fern sich „Einsfünfzig“ anfühlen, wenn man mit einer vertrauten Person unterwegs ist. Die Unmittelbarkeit scheint mit jedem Zentimeter mehr verloren zu gehen. Zugleich wurde uns klar, dass in vielen Alltagssituationen nur scheinbar der geforderte Sicherheitsabstand eingehalten wird. Weil er in dieser Exaktheit unsere inneren Maßstäbe durcheinander bringt, uns offensichtlich fremd ist und zumindest Freunde auch spürbar zu Fremden macht.

Distanzzonen

Moritz Freiherr von Knigge, Nachfahre des Aufklärers Adolph Freiherr Knigge (1752-1796), schreibt über den „richtigen Abstand“: „In unserem Kulturkreis kommunizieren wir […] normalerweise in einer Distanz von einem halben Meter. Wenn wir mit Menschen kommunizieren, die uns nahe stehen. Je fremder uns Menschen sind, desto größer wird auch der Abstand zwischen uns: bis zu einem Meter. Kennen wir die Menschen in unserer Nähe gar nicht, halten wir größere Abstände.“ Im öffentlichen Raum, so heißt es weiter, lassen sich diese Abstände nur schwer einhalten: „Ein überfüllter Regionalexpress, eine Fußgängerzone, in der Weihnachtszeit oder eine Warteschlange im Supermarkt können es uns schwer machen unsere gewünschte Distanzzonen aufrecht zu erhalten“ (https://www.freiherr-knigge.de).

In der Fachliteratur wird von „Proxemik“ gesprochen. Der von dem amerikanischen Anthropologen E. T. Hall eingeführt Begriff stammt aus dem Lateinischen, „proximare“ wird mit „sich annähern“ übersetzt. In seinem Werk „The Hidden Dimension“ (1966) beschreibt Hall die je nach Kulturkreis verschieden großen räumlichen Abstände, die Menschen zulassen bzw. gegen „Eindringlinge“ auf verschiedene Weisen zu schützen versuchen (https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_T._Hall).

Einsfünfzig 7
Einsfünfzig 7

Probefeld

Ein Probefeld für approximative „Einsfünfzig“ könnte auch die seit dem 28. April 2020 gültige Neuregelung der Straßenverkehrsordnung (StVO) sein. Dort heißt es: Ein Abstand von mindestens 1,5 Meter innerhalb und 2 Meter außerhalb von Ortschaften muss von Kraftfahrzeugen „beim Überholen von Radfahrern und Elektrokleinstfahrzeugen eingehalten werden“. Nur zu gut erinnere ich mich an die orangefarbenen Abstandshalter an Fahrräder. Länge: 31,5 Zentimeter! Und man war schon froh, wenn dieser Abstand eingehalten wurde.

Einsfünfzig 6
Einsfünfzig 6

Der korrekte Corona-Abstand, den wir mit unserer Performance sichtbar machten und einforderten, war auf dem weiten Karlsruher Schloss sehr leicht einzuhalten. Im Alltag aber fehlt die Erfahrung mit „Einsfünfzig“. Die Abstandsregelung umgesetzt in einer belebteren Fußgängerzone oder auch in einem Büro würde sicherlich auf Verwunderung, möglicherweise sogar auf Widerstand stoßen.

Die neue zwischenmenschliche Distanz muss wohl noch eingeübt werden.

Die etwa einstündige Performance wurde am 18. April 2020 gemeinsam von der Publizistin und Theaterwissenschaftlerin Juliane Langer (Karlsruhe) und dem Öffentlichkeitsreferenten und Konzeptkünstler Ralf Stieber (Karlsruhe) auf dem Karlsruher Schlossplatz veranstaltet. Weitere Aktionen sind geplant.

Ralf Stieber, Karlsruhe, den 27. April 2020

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