Apr 082015
8. April 2015
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Ein Baum, der anders ist als die anderen. Ein besonderer Baum. Er fällt auf inmitten all der anderen Bäume, die einfach in den Himmel wachsen. Dieser Baum ist außergewöhnlich. Eine Rindenkrone ziert ihn. Der König der Bäume. Baumexperten sprechen von Baumkrebs. Eine Pilzkrankheit. Infektion durch Risse und Wunden in der Rinde. Die Besonderheit wird zum Makel. Aus dem Blickwinkel der Nützlichkeit wird angepasstes Verhalten erwartet. Bäume sollen gerade in den Himmel wachsen. Sich nicht auszeichnen durch Besonderheit, Andersartigkeit. Auf dem Foto stehen alle anderen Bäume um diesen Baum herum, um den eigenrtigen Baum im Mittelpunkt. Der auserwählte Baum. Erwählt, ausersehen, eine andere Rolle einzunehmen. Auserwählt und zugleich abgesondert. Die jüdisch-christliche Tradition klingt leise an.
Von der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) stammt das Gedicht „This World ist not Conclusion“. Es fasziniert mich, weil die Dichterin darin unerschütterlich die Überzeugung vertritt, dass es mehr geben muss als nur diese Welt: etwas Absolutes, das auch über das hinausgeht, was die Philossophie zu begreifen sucht, eine „invisible, as Music -/But positive, as Sound – möglicherweise ein Leben nach dem Tod. Letztlich ein Rätsel.
Diese Haltung, von Dickinson ahnend und zweifelnd zugleich vorgetragen, war mir hilfreich, um mit weitem Blick neugierig alte Stationenwege selbst erfahren zu können. Sie eröffnete mir sinnenhaft Bezüge zu einer Form der Frömmigkeit, die sich vielen Betrachtern nicht mehr oder bestenfalls auf den zweiten Blick erschließt. Mein Fotobuch „This World is not Conclusion“. A Personal Pilgrimage ist der Versuch, Atmosphäre und Tiefendimensionen eines Stationenweg nachzuspüren. Es zeichnet fotografisch meinen Gang auf dem Kreuz- und Stationenweg zum Zeiler Käppele auf, den ich von 6 Uhr 40 bis 8 Uhr 22 am 24.Mai 2009 unternommen habe.
Anfangs faszinierte mich vor allem die enge Verbindung von Kultur und Natur, die dieses Stationenweg durch den Wald auszeichnet. Erst nach meiner „persönlichen Wallfahrt“ habe ich das Gedicht von Emily Dickinson wieder entdeckt. Es schien mir geeignet, um die über die traditionellen Sehgewohnheiten hinaus einen Kreuzweg erfahrbar zu machen. Während die Leidensgeschichte Christi als objektive Bezugsgröße die Aussage eines Kreuzweg vereindeutigt, erlebte ich gleichsam mit Dickinson im Handgepäck einen persönlichen, subjektiven Bezug jenseits der Tradition.
Der Kreuzweg wird zum Rätsel, das dazu ermutigt, genau hinzusehen, die Stationen des Kreuzwegs unvoreingenommen zu erfahren. Zum einen die bildhauerische Umsetzung, teilweise schlicht und naiv, dann wieder elaboriert und mit einem eigenen Ausdruck. Zum anderen auch die Einbettung eines solchen Kreuzwegs in die Natur, die aus heutiger Sicht nicht mehr nur Staffage ist. Schließlich das Erleben von Verwitterungsprozessen, denen die Stationen aus Stein ausgesetzt sind: die Natur nimmt wieder Besitz von den Denkmälern, den kulturellen Zeitzeugen. Und darüber hinaus der Verweis auf das, was die unmittelbare Wahrnehmung überschreiten und steigern kann: die Wiederentdeckung der Transzendenz als Möglichkeit tieferer Welterkenntnis.
Seitdem setze ich mich mit dem Thema Kreuz- und Stationenwege auseinander. Bin immer wieder auf diesen Frömmigkeitswegen unterwegs. Aufmerksam. Achtsam. Neugierig. Mit einem Gespür für das Numinose. Auf dem Foto ein Ausschnitt des Kreuzwegs in Hammelburg, Fotos von Zeil demnächst.
Mehr zu Emily Dickinson unter http://www.planetlyrik.de/emily-dickinson-biene-und-klee/2010/03/
8 Schwarzweiß-Fotografien – Dokumentation einer Wald-Performance
Wald – Tanz – Bewegung lässt den Fotografen Teil seiner Arbeit werden: er inszeniert sich im selbst geschaffenen Kunstraum, wird als handelndes Subjekt Teil des Kunstobjekts. Der Wald ist die Bühne, das zunächst beliebig erscheinende Setting für die Performance. Die festgehaltenen Bewegungen sind Kunst. Aber nicht nur: sie sind auch Meditation, Sammlung, Kult. Der amerikanische Fotograf Minor White (1908-1976) dazu:“I seek out places where it can happen more readily, such as deserts or mountains or solitary areas, or by myself with a seashell, and while I’m there get into states of mind where I’m more open than usual. I’m waiting, I’m listening. I go to those places and get myself ready through meditation. Through being quiet and willing to wait, I can begin to see the inner man and the essence of the subject in front of me… Watching the way the current moves a blade of grass – sometimes I’ve seen that happen and it has just turned me inside out.“ (Aus: Minor White, Interviews With Master Photographers : Minor White, Imogen Cunningham, Cornell Capa, Elliott Erwitt, Yousuf Karsh, Arnold Newman, Lord Snowdon, Brett Weston by James Danziger).
Darüber hinaus wird ein Aspekt der Kunst-Inszenierung deutlich, den der Kulturgeschichtler Prof. Dr. Thomas Macho (Berlin) in dem sehr lesenswerten Aufsatz „Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik“ beschreibt: „Worin bestehen die Techniken der Einsamkeit? Sie lassen sich ganz allgemein als „Verdoppelungstechniken“, als Strategien der Selbstwahrnehmung, charakterisieren. Wer nicht einfach bloß von allen Menschen verlassen wird (was gewöhnlich zum Tod führt), sondern seine „Verlassenheit“ überlebt, bewältigt und gestaltet, inszeniert irgendeine Art von Beziehung zu sich selbst. Indem er seine Einsamkeit perzipiert, ohne verrückt zu werden, spaltet er sich zumindest in zwei Gestalten auf: als ein Wesen, das mit sich allein, – und daher eigentlich „zu zweit“ – ist.“ (Aus: Thomas Macho: Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Aleida und Jan Assmann (Hrsg): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München (Wilhelm Fink) 2000, 27-44.). In diesem Sinne wird Kunst zur Gegenbewegung gegen die Einsamkeit, zum Kommunikationsmittel mit sich und im Fall der Fotograf über die Ausstellung mit anderen.
Und der Wald wird zum Rückzugsort, zum Ort der Besinnung und Einübung von inszenierter Einsamkeit. Macho dazu: „Die Einsamkeitsorte zeichnen sich gewöhnlich nicht nur durch die Abwesenheit von Menschen aus, sondern auch durch ihre Einförmigkeit und Homogenität: Wüsten, Meere, Wälder, Steppen oder Schneefelder bilden (zumindest auf den ersten Blick) monotone Umgebungen, in denen man sich leicht verirren kann. Aber just diese Gleichförmigkeit begünstigt die Erscheinung der Dämonen, der Gestalten des „großen Anderen“, der Engel und Genien: in dieser Hinsicht fungiert die Einöde wie jeder flache Stein, wie eine Tafel aus Ton oder Wachs, wie Leinwand, Papyrus oder ein Blatt Papier. Der Einsamkeitsort gestattet gerade durch seine an Unterschieden arme Erscheinung die vielfältigsten, buntesten Auftritte von Bedeutungen und Symbolen, die – gewissermaßen als Zeichen auf einer anonymen Oberfläche, als Schauspieler in der Arena – ihren semantischen Glanz vor einer neutralen Bühne steigern.“
Originalität und Authentizität zeichnen „Wald – Tanz – Bewegung“ aus: der Einzelne wird zum Individuum, indem er sich am Einsamkeitsort inszeniert. Die Fotografie wird dafür zum Beweis bzw. umgekehrt: den Fotografien wird Originalität und Authentizität übertragen.
Am Anfang stand eine Waldausstellung mit dem Ziel der Inszenierung von Kunst in Natur. Grenzüberschreitung und Befremdung: was haben Fotografien im Biotop verloren? Natur wird zum Kunstraum, in dem Verfall möglich ist im Gegensatz zum vollklimatisierten Museum. Das Naturmuseum als Gegenpol zur Verwahrungsanstalt Kunstmuseum. Die Fotografien segnen das Zeitlich, bereits nach wenigen Monaten verändert sie sich durch den Lichteinfall und Witterung ihr Aussehen. Indem alles fotografisch festgehalten wird, wird der Verfall aufgehalten: Fotografie des Verfalls als Widerstand gegen den Verfall.
Die Stille im Naturmuseum war beängstigend. Stiller als es in jedem Kunstmuseum zugeht. Niemand lief durch die Hallen: Die Fotografien in der Natur wurden von niemanden beachtet. Zumindest bekam ich nie Rückmeldung. Ein temporärer Eingriff in die Natur. Ich erinnere mich bei meinen Wald-Ausstellungsbesuchen an die Arbeiten von Anna und Bernhard Blume „Im Wald“. Groteske Selbstinszenierungen, bei denen der Wald ein Eigenleben entwickelt. Nach einigen Besuchen der Ausstellung spürte ich, dass der Ort zu einem Privat-Heiligtum geworden war. Mein Walden Pont a la Thoureau? Rückzugsraum, quasi sakral? Nicht immer war das Museum zugänglich: Brennnesselabsicherung …
Ich nahm den Raum mit der Ausstellung mit mehreren Performances in Besitz. Raumnahme durch Bewegung. Festgehaltene Bewegung und temporäre Transitwelt, dokumentiert mittels Fotografie. Was die Ausstellung angeht: nach einem Jahr habe ich die Fotografien an den Bäumen entfernt. Rückblickend spüre ich, dass die Fotografien die Landschaft aufgenommen haben und umgekehrt an den Bäumen noch immer die Fotografien hängen. Und mehr noch: „Landschaftsaufnahmen sind letztlich Bilder ‚innerer Landschaften'“, so Susan Sontag über den Fotografen Minor White (in: S. Sontag, Über Fotografie, Frankfurt 1980, S. 118).