Einsfünfzig oder: Faktor 1580

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Weitere Erfahrungen mit Sicherheits- und Mindestabständen

Der Corona-Schutzabstand und der Mindestabstand, den seit April 2020 Autos, Motorräder und Lastwagen beim Überholen von Fahrrädern einhalten müssen, beträgt jeweils mindestens „Einsfünfzig“.

Youtube-Clip: Einsfünfzig Sicherheitsabstand

In beiden Fällen geht es um das Einhalten von physischer Distanz zum Schutz des eigenen Lebens. Allerdings unterscheiden sich die Begründungen für die Distanz: Im Blick auf Corona soll die Ausbreitung einer Infektionskrankheit verhindert werden. Die Gefahr der Ansteckung ist zwar im Raum, doch unmittelbar kaum greifbar. Die Gefährdung ist unsichtbar für die menschlichen Sinne bzw. bestenfalls auf den zweiten Blick an Symptomen wie Husten erkennbar.

Unsichtbare und sichtbare Gefährdungen

Anders verhält es sich mit dem Schutzraum für Radfahrer: Hier gibt es ein eindeutig wahrnehmbares Gegenüber, das Gefahr für Leib und Leben bedeuten kann. Zu große Nähe zwischen Rad- und Autofahrern wird als bedrohlich wahrgenommen, nicht zuletzt weil Verkehrsteilnehmer unterschiedlich stark sind. Niels Boeing veranschaulichte das in einem ZEIT-Beitrag: „Ein PS entspricht rund 736 Watt. Tour-de-France-Profis bringen es auf bis zu 400 Watt, sportliche Radfahrer auf bis zu 200 Watt. Ohne zu ermüden, kann ein Mensch über eine lange Zeit mit 75 Watt in die Pedale treten – das sind gut 0,1 PS.“ (Die Räderrepublik, in: ZEIT Wissen Nr. 5/2015). Zum Vergleich: Die durchschnittliche PS-Zahl eines Neuwagen betrug 2019 in Deutschland 158 PS (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/249880/umfrage/ps-zahl-verkaufter-neuwagen-in-deutschland/).

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Innenstadt

Die Gefährdung von Radfahrern, der man mit der Distanz von Einsfünfzig zu begegnen trachtet, lässt sich also beziffern: Autofahrer in Neuwagen sind um den Faktor 1580 stärker als Radfahrer. Das Gefährdungspotential ist also erstaunlich hoch und kann bestenfalls durch Rücksichtnahme abgemildert werden.

Zurück zum Corona-Abstand, der ja ebenfalls Einsfünfzig beträgt. Hier bleibt der Gefährdungsfaktor fiktiv, denn das Coronavirus entzieht sich dem PS-Vergleich. Die Gefährdung wird als nicht fassbares Phänomen wahrgenommen, der mit einer zumindest theoretisch fassbaren Distanz begegnet wird. Distanz lässt sich in Sachen Corona am ehesten auf der Zeitachse darstellen: Gelingt es, die Dynamik der Pandemie zu verzögern, wird Zeit gewonnen, um die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln voranzutreiben und medizinische Behandlungskapazitäten aufzubauen. Distanz ist somit ein Raum- und Zeitphänomen.

Praxisnahe Umsetzung

Für uns lag es nahe, die Umsetzung des Mindestabstands auch auf dem Fahrrad einmal in der Praxis zu testen und quasi den Corona-Abstand und den Sicherheitsabstand beim Überholen miteinander zu kombinieren. Juliane Langer wagte den Test mit dem ausladenden Abstandsring, ich selbst war mit meinem einfachen Abstandhalter unterwegs. Beide Male wurde der schützende Raum um uns als verhältnismäßig groß erlebt. Dürfen wir tatsächlich so viel Raum für uns beanspruchen, fragten wir uns? (Tatsächlich genügt im Straßenverkehr rechts ja meist ein kleinerer Abstand von einem Meter.)

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Innenstadt 2

Einsfünfzig wurde als ungewohnt bzw. gewöhnungsbedürftig erlebt. Wir hatten keine wirkliche Vor-Erfahrung mit dieser Distanz. Spürbar war für uns zudem, dass die Einschätzung von Abständen erschwert wird, sobald man in Bewegung ist. So wird man, wenn man Raum einnimmt und sich dabei noch bewegt, mit ganz anderen Gefahren konfrontiert als wenn man an einem festen Ort Raum beansprucht.

Schließlich: Ich war nicht fähig, die Einhaltung des Mindestabstands beim Überholen in einer engen Straße tatsächlich einzufordern. Das Machtgefälle mit dem Faktor 1580 war einfach zu groß. Als sich ein Autofahrer mir von hinten näherte, hielt ich an, stieg vom Fahrrad ab und entfernte den Abstandhalter zu meiner eigenen Sicherheit.

Einsfünfzig Abstand Fahrrad
Einsfünfzig Nordstadt

Eine vergleichbare Erfahrung gibt es auch beim Insistieren auf den Coronaabstand im öffentlichen Raum: Wo Menschen nicht bereit sind, diesen Schutzabstand zu gewähren, kommt es schnell zu Konflikten nach dem Motto: „Ich gestehe dir diesen Raum nicht zu, ich bin nicht bereit, mich an solche Regeln zu halten!“ Ähnliches gilt für das Tragen von Schutzmasken, die ja weniger dem Selbstschutz als dem Schutz des Anderen dienen.

Ein Fazit: Distanzregelungen lösen offensichtlich Macht- und Ohnmachtsgefühle aus.

Ralf Stieber, Karlsruhe, 23. Mai 2020

One Reply to “Einsfünfzig oder: Faktor 1580”

  1. Hoffentlich finden die philosophischen und soziologischen Erkenntnisse aus diesem Projekt eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. Im Gegensatz zu dem eher abgehobenen weltfremden Beitrag von Peter Weiel, ZKM Karlsruhe, in der Rheinpfalz vom 4.6.2020 „Das Virus als Zivilisationsfortschritt“ rührt dieser Beitrag wirklich an die Themen zwischen Individuum und Gesellschaft, die für die Zukunft neu gedacht werden müssen. Redet drüber – im ZKM, mit Juliane Langer und Ralf Stieber. Die Gesellschaft braucht das.

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